Häufig gestellte Fragen zur Binnenmarktrelevanz – ein Beitrag aus dem cosinex Blog

Kürzlich hat das Land Brandenburg in einem Rundschreiben zur Anwendung des Direktauftrags klargestellt, dass auch bei Direktaufträgen das Vorliegen einer Binnenmarktrelevanz zu prüfen sei. Aufgrund der offenbar anhaltend hohen Relevanz des Themas bündeln wir in diesem Beitrag die Rechtslage und relevante Fragen im Kontext der Binnenmarktrelevanz.

Die Prüfung der Binnenmarktrelevanz gehört zu den anspruchsvollsten Aufgaben bei öffentlichen Aufträgen unterhalb der EU-Schwellenwerte. Während bei Aufträgen oberhalb dieser Schwellenwerte klare Verfahrensregeln gelten, bewegen sich öffentliche Auftraggeber im Unterschwellenbereich in einem nicht eindeutig geregelten und vielleicht auch gerade deswegen komplexen Umfeld. Die Konsequenzen bei Fehleinschätzungen können gravierend sein und reichen von Rückforderungen von Fördermitteln bis hin zu Schadenersatzforderungen betroffener Unternehmen.

I. Was bedeutet Binnenmarktrelevanz?

Binnenmarktrelevanz gilt, wenn davon auszugehen ist, dass an einem öffentlichen Auftrag, dessen geschätzter Auftragswert zwar unterhalb der EU-Schwellenwerte liegt, dennoch ein grenzüberschreitendes Interesse besteht und daher die Möglichkeit eines EU-weiten Wettbewerbs eröffnet werden muss.

Ziel ist also, das Vergabeverfahren für Wirtschaftsteilnehmer aus allen EU-Mitgliedstaaten durch eine öffentliche Bekanntmachung zugänglich zu machen.

Die Binnenmarktrelevanz erhöht die vergaberechtlichen Anforderungen an Auftragsvergaben für den unterschwelligen Bereich gewissermaßen in Richtung des oberschwelligen Bereichs.

II. Rechtlicher Rahmen und Ursprung der Binnenmarktrelevanz

Die Binnenmarktrelevanz ist gesetzlich nicht geregelt. Ihre Grundsätze wurden durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entwickelt. Der EuGH hatte klargestellt, dass die Binnenmarktregeln des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) auch für Aufträge gelten, die nicht unter die Vergaberichtlinien fallen.

Um die EuGH-Rechtsprechung zu erläutern, hat die Europäische Kommission 2006 eine Mitteilung zu Auslegungsfragen in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht, das für die Vergabe öffentlicher Aufträge gilt, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen, herausgegeben. Sie führt selbst keine neuen rechtlichen Regeln ein, stellt aber bewährte Verfahren vor, um die Mitgliedstaaten darin zu unterstützen, die Möglichkeiten des Binnenmarkts voll auszuschöpfen.

Kommt ein Auftraggeber zu dem Schluss, dass der fragliche Auftrag für den Binnenmarkt relevant ist, muss die Vergabe unter Einhaltung der aus dem Gemeinschaftsrecht abgeleiteten Grundanforderungen erfolgen. Dazu gehören insbesondere der freie Warenverkehr, die Niederlassungsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit, sowie die Grundsätze der Nichtdiskriminierung, Gleichbehandlung, Verhältnismäßigkeit und insbesondere Transparenz.

III. Prüfung der Binnenmarktrelevanz: Kriterien für ein eindeutig grenzüberschreitendes Interesse

Die Feststellung einer eventuellen Binnenmarktrelevanz obliegt dem jeweiligen Auftraggeber. Es gibt hierfür keine festen Kriterien oder klar definierte Grenzwerte. Eine Einzelfallentscheidung ist unumgänglich. Es ist nicht isoliert auf eines der Kriterien abzustellen, sondern eine Gesamtschau vorzunehmen, bei der alle Aspekte berücksichtigt werden. Das grenzüberschreitende Interesse muss eindeutig sein.

Die Europäische Kommission und die Rechtsprechung haben verschiedene Kriterien für das Bestehen eines eindeutig grenzüberschreitenden Interesses herauskristallisiert, die jedoch nicht als abschließend anzusehen sind:

  1. Lage des Leistungsortes

Die grenznahe Lage des Leistungsortes spielt jedenfalls bei einer erforderlichen physischen Präsenz des Auftragnehmers eine zentrale Rolle: Je näher sich der Ort der Leistungserbringung an einem anderen Mitgliedstaat der EU befindet, desto eher ist von einem grenzüberschreitenden Interesse auszugehen. Eine Checkliste des Thüringer Wirtschaftsministeriums von 2024 gibt beispielsweise als groben Richtwert eine Entfernung von 200 Kilometern an, die wohl als großzügig angesehen werden kann.

  1. Auftragswert

Beim geschätzten Auftragswert gilt: Je höher er ausfällt, desto eher wird der Auftrag das Interesse von Bietern anderer EU-Mitgliedstaaten wecken, da Zeit- und Kostenaufwand sich mit steigenden Auftragswerten ausgleichen. Umgekehrt spricht ein Auftrag mit sehr geringer wirtschaftlicher Bedeutung gegen ein eindeutiges, grenzüberschreitendes Interesse. Gleichwohl können im Einzelfall auch niedrige Auftragswerte im Zusammenhang mit den anderen Kriterien eine Binnenmarktrelevanz begründen.

Bei Bauleistungen wird bereits ab einem Auftragswert von mehr als einem Prozent des EU-Schwellenwertes eine Binnenmarktrelevanz nicht mehr ausgeschlossen. Für sonstige Liefer- und Dienstleistungen geht die Praxis ab einem Auftragswert, welcher 10 Prozent des EU-Schwellenwertes überschreitet, von einer Binnenmarktrelevanz aus.

Im Rahmen der grenzübergreifenden Zusammenarbeit zwischen der Republik Polen und dem Freistaat Sachsen empfiehlt ein Leitfaden zur Binnenmarktrelevanz etwa die Prüfung und Dokumentation der Binnenmarktrelevanz ab einem Auftragswert von über 250,00 Euro netto.

  1. Leistungsgegenstand

Der Leistungsgegenstand beziehungsweise die Art der Leistung ist ebenfalls entscheidend: Je eher Struktur und Gestalt einer Leistung auch von einem in einem Drittstaat ansässigen Unternehmen erbracht werden können, desto eher ist diese Leistung binnenmarktrelevant. Beispiele hierfür sind die Vergabe von Dolmetscher- oder Übersetzungsleistungen online. Bei IT-Leistungen wird regelmäßig eine Binnenmarktrelevanz anzunehmen sein, weil diese in den seltensten Fällen national ausgerichtet sind, sondern problemlos von anderen in der EU ansässigen Unternehmen erbracht werden können.

Die Kenntnis des Sprach- oder Rechtsrahmens fließt ebenfalls in die Bewertung ein: Wenn die Leistung international ausgelegt ist, also nicht nationalen Gepflogenheiten folgt, die deutsche Sprache nicht essenziell voraussetzt oder Kenntnisse im deutschen Recht nicht gefordert sind, spricht dies für ein grenzüberschreitendes Interesse.

Die Wertung der Kriterien und das daraus resultierende Ergebnis der Prüfung der Binnenmarktrelevanz sowie das sich daran anschließende weitere Vergabeverfahren im Unterschwellenbereich sind lückenlos und nachvollziehbar zu dokumentieren. Ist die Entscheidung zum Nichtvorliegen einer Binnenmarktrelevanz nicht nachvollziehbar begründet und/oder nicht dokumentiert, kann dies Finanzkorrekturen bis zu 100 Prozent des Auftragswertes nach sich ziehen.

IV. Folgen bei festgestellter Binnenmarktrelevanz

Wenn die Binnenmarktrelevanz eines Auftrags festgestellt wurde, muss der Auftrag bekannt gemacht werden, um ihn auf der Grundlage eines echten Wettbewerbs zu vergeben. Die Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung umfassen eine Transparenzpflicht, wonach der Auftraggeber zugunsten potenzieller Bieter einen angemessenen Grad von Öffentlichkeit sicherstellen muss, der den Markt dem Wettbewerb öffnet und die Nachprüfung der unparteiischen Durchführung ermöglicht. Dies bedeutet, dass in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Unternehmen vor der Vergabe Zugang zu angemessenen Informationen über den jeweiligen Auftrag haben müssen, damit sie gegebenenfalls ihr Interesse bekunden können.

Das bloße Kontaktieren einer bestimmten Anzahl potenzieller Bieter ist nicht ausreichend, selbst wenn der Auftraggeber auch Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten einbezieht. Formen „passiver“ Information, bei denen der Auftraggeber Aufträge nicht aktiv bekanntmacht, sondern nur auf Informationsgesuche reagiert, sind ebenfalls unzureichend. Die vom EuGH festgelegten Erfordernisse lassen sich nur erfüllen, wenn vor der Auftragsvergabe eine hinreichend zugängliche Bekanntmachung veröffentlicht wird.

Das Diskriminierungsverbot ist strikt einzuhalten. Vergabeunterlagen, einschließlich Bewerbungsbedingungen, Eignungs- und Zuschlagskriterien, dürfen keine Anforderungen enthalten, die zum Beispiel nur von in Deutschland ansässigen Bietern erfüllt werden können.

Auch dürfen Auftraggeber keine Bedingungen stellen, die potenzielle Bieter in anderen Mitgliedstaaten direkt oder indirekt benachteiligen, wie zum Beispiel das Erfordernis einer Niederlassung im selben Mitgliedstaat oder in derselben Region wie der Auftraggeber.

Die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise ist zu beachten: Wenn Bewerber oder Bieter Bescheinigungen, Diplome oder andere schriftliche Nachweise vorlegen müssen, die ein entsprechendes Gewährleistungsniveau aufweisen, sind Dokumente aus anderen Mitgliedstaaten gemäß dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zu akzeptieren. Ein Beispiel für ein diskriminierendes Kriterium ist der Meistertitel, da es diesen lediglich in Deutschland gibt.

Angemessene Fristen sind einzuhalten: Die Fristen für Interessensbekundungen und für die Angebotsabgabe müssen so lang sein, dass Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten eine fundierte Einschätzung vornehmen und ein Angebot erstellen können.

Ein transparenter und objektiver Ansatz ist erforderlich: Alle Teilnehmer müssen sich im Voraus über die geltenden Verfahrensregeln informieren können und die Gewissheit haben, dass diese Regeln für jeden gleichermaßen gelten.

Auftraggebern steht es frei, die Zahl der Bewerber auf ein angemessenes Maß zu beschränken, sofern dies auf transparente und diskriminierungsfreie Weise geschieht. Hierfür können objektive Kriterien wie die einschlägige Erfahrung der Bewerber, die Unternehmensgröße, die betriebliche Infrastruktur, die technische und berufliche Leistungsfähigkeit oder andere Kriterien herangezogen werden. Auch eine Auslosung ist möglich, entweder als alleiniges Auswahlkriterium oder in Kombination mit anderen Kriterien. In jedem Fall müssen nach der Vorauswahl genügend Bewerber übrig bleiben, um einen angemessenen Wettbewerb zu gewährleisten.

Die letztendliche Entscheidung über die Vergabe des Auftrags muss den zu Anfang festgelegten Verfahrensregeln entsprechen und die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und Gleichbehandlung uneingeschränkt berücksichtigen. Insbesondere bei Verfahren mit Verhandlungen muss sichergestellt werden, dass kein Bieter Zugang zu mehr Informationen als andere hat und jegliche ungerechtfertigte Bevorzugung ausgeschlossen ist.

V. Folgen bei Nichtbeachtung der Binnenmarktrelevanz

Wenn Vergabestellen die Binnenmarktrelevanz einer Ausschreibung nicht beachten, verstoßen sie gegen das Wettbewerbs-, das Transparenz- und das Gleichbehandlungsgebot. Der öffentliche Auftraggeber handelt dann vergabewidrig.

Ein Verstoß gegen die Anforderungen der Binnenmarktrelevanz kann dazu führen, dass einem öffentlichen Auftraggeber die wirtschaftliche Verwendung der Haushaltsmittel abgesprochen wird. Im Kontext von Zuwendungsrechts-Verhältnissen kann ein Auflagenverstoß zur Rückforderung der Zuwendung führen.

Der öffentliche Auftraggeber kann seitens der am Vergabeverfahren beteiligten Bieter mit Unterlassungs- und Schadenersatzansprüchen konfrontiert werden. Zudem müssen Vergabestellen, die die Binnenmarktrelevanz nicht beachten, mit einer einstweiligen Verfügung rechnen.

VI. Quellen und Links

Quelle: cosinex Blog. URL: https://csx.de/EGS4y